Kiezblocks - Stadtgestaltung Top-down oder Bottom-up?
10.02.2022
Die Debatte um Kiezblocks wurde in Berlin bislang vor allem durch die Zivilgesellschaft und Initiativen vorangetrieben. Mehr als 50 Initiativen haben es mit ihrem Engagement geschafft, dass die neue rot-grün-rote Koalition in Berlin Kiezblocks im Koalitionsvertrag verankert hat. Auch die Wissenschaft und die Verwaltung fangen an, sich mit dem Konzept zu beschäftigen. Wie aber sieht der Prozess von der Idee über die Forderung und den demokratischen Beschluss bis hin zur Umsetzung aus? Sind Kiezblock-Prozesse ein Kennzeichen der partizipativen Stadtgestaltung? Oder sind sie mit der Aufnahme in den Koalitionsvertrag eher Top-down-Regierungsprogramm? Und ist das überhaupt wichtig? Wir möchten mit diesem Blogpost versuchen ein wenig Klarheit zu schaffen.
Claimed spaces und invited spaces
Üblicherweise wird Beteiligung so gedacht, dass Entscheidungsträger:innen zur Mitwirkung an einem bestimmten Sachverhalt einladen. Sie entscheiden, zu welchem Thema beteiligt wird, wann und wie beteiligt wird, und laden dann zur Beteiligung ein. Solche Beteiligungsprozesse werden daher als invited spaces bezeichnet. Wenn Bürger:innen oder die Zivilgesellschaft hingegen auf eigene Initiative Möglichkeiten der Beteiligung in Anspruch nehmen, ist von einem claimed space die Rede.
Trotz der zunehmenden politischen Verankerung lassen sich die Berliner Kiezblockprozesse aktuell als Bottom-up-Prozesse in claimed spaces für politische Beteiligung beschreiben. Bottom-up bedeutet, dass ein Prozess aus der Zivilgesellschaft heraus angestoßen und gestaltet wird. Dementsprechend werden in einem claimed space Thema und Ausmaß der angedachten Veränderung von der Zivilgesellschaft definiert. (Mehr zu claimed spaces findet sich hier oder hier, eine tiefergehende Analyse eines verwandten Beispiels bietet dieser Artikel.)
In einem claimed space werden Bürger:innen nicht beteiligt, sie beteiligen sich. Die Initiative geht von den Bürger:innen aus, daher Bottom-up. Das kann für die Umsetzung natürlich Komplikationen mit sich bringen, beispielsweise wenn Bürger:innen Forderungen stellen, die sich nicht auf einen bestimmten Verantwortungsbereich beschränken oder für die keine klare Finanzierung gegeben ist. So könnte die Forderung nach einem sicheren Schulweg die Verantwortungsbereiche der Kommune, des Bundeslandes sowie des Bundes berühren, weil die Nebenstraße, in der die Schule liegt, in kommunaler Verantwortung liegt, die übergeordnete Straße aber beim Land und die Regelung für diese in der bundesweit gültigen Straßenverkehrsordnung.
Weiter kann die Idee von claimed spaces noch komplexer werden, indem bspw. ein politischer Akteur die Forderung, die in einem claimed space entwickelt wird, aufgreift und einen Top-down-Prozess anstößt, um die Bürger:innen an einer Entscheidung zu beteiligen. So sind die Trennlinien zwischen Top-down und Bottom-up nicht immer scharf, weil gerade im Erfolgsfall von Bottom-up-Initiativen hoheitliche Akteure im Bereich der Forderungen aktiv werden. Das passiert auch gerade dann, wenn es von der Initiierung eines Prozesses (die Forderung bis zum Beschluss) zur Umsetzung übergeht. Dies zeigt sich auch am Fall der Kiezblocks in Berlin. Um die beiden Beteiligungsstrategien besser zu verstehen, möchten wir die beiden Pfade skizzieren und erörtern, welche Möglichkeiten sich hieraus ergeben.
Top-down sind in der Regel Prozesse, die „von oben“, also durch Politik und Verwaltung, vorgegeben und gesteuert werden. Invited spaces sind im Gegensatz zu claimed spaces Orte für Partizipation, die im Rahmen dieser Entscheidungsprozesse durch Politik oder Verwaltung bereitgestellt werden. So sind beispielsweise vom Rathaus aus initiierte Townhall-Meetings ein invited space, in dem die Bürger:innen dazu eingeladen werden sich zu beteiligen. Im Gegensatz zum claimed space haben sie diesen Raum aber nicht selber geschaffen und auch nicht Inhalt und Grenzen definiert. Den Spielraum bestimmen die Entscheidungsträger:innen aus Politik und Verwaltung. Ist dieses Townhall-Meeting aber das Resultat eines zivilgesellschaftlichen Bottom-up-Prozesses, der seitens der Verwaltung aufgegriffen wurde, so verschwimmen hier erneut die Trennlinien.
Kiezblocks "Bottom-up"
Im Fall der Kiezblocks haben sich zivilgesellschaftliche Akteure in Berlin eine Idee zur Stadtgestaltung aus anderen Ländern abgeguckt und sie angepasst. Nun wollen sie diese bei sich vor der Haustür umgesetzt wissen. Der motorisierte Durchgangsverkehr soll unterbunden werden, um die Sicherheit zu erhöhen, die Luftqualität zu verbessern und Lärm und Abgase zu vermindern. Erreicht werden soll der Beschluss für diese Maßnahmen im Fall der Berliner Kiezblocks mittels des Einwohner:innenantrags. Mit Hilfe dieses Instruments haben Bürger:innen in Berlin die Möglichkeit Anträge an die kommunalen Parlamente, (in Berlin heißen diese „Bezirksverordnetenversammlung“, kurz BVV) zu stellen (siehe § 44 BezVG Berlin). Um dieses Instrument nutzbar zu machen, rief der zivilgesellschaftliche Verein Changing Cities e.v. 2020 die #Kiezblocks-Kampagne ins Leben. Changing Cities zeigte einen möglichen Weg zum politischen Beschluss für die Einrichtung von Kiezblocks auf, indem interessierte Bürger:innen mittels des Einwohner:inennantrags einen Kiezblock einfordern.
Grob skizziert sieht er die folgenden sieben Schritte vor (die tatsächliche Umsetzung gestaltet sich natürlich weitaus vielfältiger): Zunächst muss sich eine Initiative aus interessierten Anwohner:innen gründen, hierzu benötigt es mindestens drei Mitstreiter:innen (Vertrauenspersonen). In einem zweiten Schritt soll ein Plan erarbeitet werden, wie ein möglicher Kiezblock aussehen kann. Mittels unterschiedlicher Beteiligungsstrategien sollen Nachbar:innen auf die Initiative aufmerksam gemacht werden, um sich ebenfalls einzubringen. Der Plan soll in einem dritten Schritt zu einem Antrag ausformuliert werden, der dann in dieser Form später vom Parlament beschlossen oder abgelehnt werden kann.
Da die Bürger:innen keine Mitglieder der BVV sind und so kein Antragsrecht haben, müssen in einem vierten Schritt mindestens 1.000 gültige Unterschriften von im Bezirk gemeldeten Bürger:innen gesammelt werden, die diesen Antrag unterstützen. Der Antrag wird anschließend bei der BVV eingereicht. Dieser Antrag kann dann vom Parlament beschlossen oder abgelehnt werden, genau wie jeder andere Antrag, der von den Parlamentarier:innen eingereicht wird.
Kiezblocks "Top-down"
Top-down, also “von oben” gesteuerte Verfahren, innerhalb derer es invited spaces gibt, können auch für Kiezblocks angewandt werden. In verschiedenen Ausführungen sind diese Top-down-Verfahren auch in Berlin zu finden. So hat beispielsweise die Grüne Fraktion der BVV Neukölln einen Antrag für einen Kiezblock im Neuköllner Schillerkiez eingereicht. In Berlin-Mitte ist im Dezember 2021 im Bellermannkiez ein erster Kiezblock gestartet worden - basierend auf einem Konzept des "KlimaKiez Badstraße", einem Projekt des Quartiermanagements Badstraße. Im Komponistenviertel im Bezirk Pankow gestaltet das dortige Bezirksamt im Frühjahr 2022 in einem einjährigen Verkehrsversuch einen Kiezblock.
Die (mögliche) Gestaltung von Top-down-Prozessen zur Umsetzung von Kiezblocks ist vielfältig. Der Plan für den Kiezblock im Komponistenviertel sieht bspw. vor, reversible verkehrslenkende Maßnahmen, basierend auf Vorschlägen der Zivilgesellschaft, umzusetzen. Die Effekte dieser Maßnahmen (bzgl. Verkehrsbelastung, Sicherheit, Umwelt- und Lebensqualität im Kiez) werden durch universitäre Einrichtungen erhoben, analysiert und evaluiert. Ein invited space wird in diesem Prozess durch den Einbezug zivilgesellschaftlicher Vorschläge ausgefüllt.
Neben dieser Top-down-Maßnahme in Form eines Verkehrsversuches ist auch ein standardisiertes Verwaltungsverfahren möglich, das aus den folgenden Schritten bestehen kann (basierend auf einem Vorschlag des Straßen- und Grünflächenamtes Friedrichshain-Kreuzberg): (1) einer verkehrsrechtlichen Bewertung (Verkehrsmengenerfassung, Gefährdungsbeurteilung), (2) einer straßenkonkreten Umsetzungsplanung (Vorschlag konkreter Maßnahmen wie z.B. Fußgängerzonen, modale Filter, Tempolimits oder geschützte Radwege), (3) Beteiligungsmethoden in invited spaces (zweite Stufe der Partizipation: Mitwirkung durch Realbeteiligung, Online-Umfrage oder Repräsentativ-Befragung), (4) gefolgt von den Umsetzungsschritten (schrittweise Einführung der Maßnahmen), und ausgewertet durch eine (5) Evaluation (Fortlaufende Auswertung bzgl. Veränderung der Verkehrsströme, Hinweis- und Beschwerdelage, Nachbesserungsbedarfe, Leifadenerstellung).
Eine schwierige Trennung - und das ist gut so
Oft verläuft die Trennung der Prozesse in Top-down und Bottom-up jedoch nicht stringent. In Berlin Mitte hat der Bezirk die zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Kiezblocks aufgenommen, und plant nun die Umsetzung von 12 Kiezblocks in den kommenden fünf Jahren. Der Kiezblock im Bellermannkiez ist einer davon. Die Forderung danach kam jedoch aus der Zivilgesellschaft und aus dem Quartiersmanagement (wobei es sich beim Berliner Quartiersmanagement selbst um eine senatsgeförderte Form der Zivilgesellschaft handelt).
Auch im Berliner Bezirk Pankow luden im Jahr 2020 zivilgesellschaftliche Akteure dazu ein, Vorschläge für Kiezblocks zu machen. Politiker:innen erfuhren von dem Treffen oder folgten selber der Einladung, und entschieden: Kiezblocks sollen kommen. Ein Verfahren dafür, welche Kiezblocks umgesetzt werden sollen - und welche zuerst - haben dann aber die Entscheidungsträger:innen im Rathaus ausgeklügelt.
Bis wann ist ein solcher Prozess noch Bottom-up? Ab wann ist er Top-down? Die Analyse ist in der Tat schwierig. Sobald die Bürger:innen den Prozess aus der Hand geben, sprich: nicht mehr definieren, was, wo und wann gefordert wird, und sobald dann Entscheidungsträger:innen den Prozess steuern, können wir nicht mehr von Bottom-up sprechen. Dass das passiert, kann aber die direkte Folge davon sein, dass sich Bürger:innen an einem claimed space beteiligten. Der Prozess erfährt politische Aufmerksamkeit, gewinnt an Relevanz und wird weiter vorangetrieben. In dem Beispiel Pankow gibt es nun Top-down-Prozesse für die Umsetzung von Kiezblocks. Diese wiederum sind einigen aus der Zivilgesellschaft allerdings eine zu träge Transformation, daher verfolgen einige Initiativen jetzt auch den Weg des Einwohner:innenantrags. Und weil nicht die Entscheidungsträger:innen, sondern die Bürger:innen bestimmen, welche Spielräume in einem claimed space angebracht sind, wird manchmal auch einfach selber losgelegt, um den Prozess in die Hand zu nehmen und den Verkehr selber neu zu ordnen. Top-down- und Bottom-up-Prozesse können sich also überlagern und miteinander interagieren. In jedem Fall kann sich die Zivilgesellschaft ihre Rolle als Korrektiv zunutze machen und mittels claimed spaces auch Prozesse, die „von oben“ übernommen wurden, weiterhin beeinflussen, wenn sie nicht in die gewünschte Richtung gehen.
Und diese Dynamik ist auch der Kern des Ganzen: Wie kann es gelingen, dass Bürger:innen produktiv und konstruktiv mit Politik und Verwaltung zusammenarbeiten? Es gibt erfolgreiche Beispiele hiervon (wie beispielsweise Bürgerhaushalte), der Bereich Verkehr und Mobilität ist in Deutschland allerdings noch immer ein sehr technokratisches Feld, das von Verwaltungen dominiert wird und in dem Bürger:innen nur wenige Möglichkeiten haben sich produktiv einzubringen.
Die AKöR (Anlauf- und Koordinationsstelle öffentlicher Raum) in Friedrichshain-Kreuzberg ist ein interessanter Versuch, diese Nuss zu knacken. Angesiedelt am dortigen Bezirksamt sollen hier zivilgesellschaftliche Initiativen mit ihren Forderungen für eine Umgestaltung des öffentlichen Raums zusammenlaufen, um eine koordinierte Kommunikation und Zusammenarbeit mit der Verwaltung zu ermöglichen. Mit Blick auf die zukünftige Umsetzung von Kiezblocks braucht es noch mehr solcher Kooperationen. Denkbar wären diese beispielsweise im „Kompetenzzentrum Kiezblocks“ Berlin-Mitte (siehe Beschluss der BVV Mitte vom 19.08.21) oder in Fachforen, die von der Zivilgesellschaft und Wissenschaft organisiert und zu denen Vertreter:innen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung eingeladen werden. Wenn die Kommunikation zwischen den initiierenden Bürger:innen von Bottom-up-Prozessen und denen, die diese „von oben“ aufgreifen, nicht abreißt, können Verwässerungen der Forderungen vermieden werden, indem das zivilgesellschaftliche Korrektiv weiterhin Teil des Dialogs bleibt.
Die schwierige Trennung von Bottom-up- und Top-down-Prozessen, die wir in unserer Analyse geschildert haben, ist eigentlich ein positives Zeichen. Es zeigt, dass die Entscheidungsträger:innen eine gewisse Responsivität an dem Tag bringen: Sie greifen Ideen auf, die von Bürger:innen ausgedacht und angeschoben werden. Die ernsthafte und zugleich kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten von Konzepten aus claimed spaces zeugt von einer funktionierenden Demokratie über den Wahltag hinaus. Instrumente wie Einwohner:innenanträge geben Parlamenten die Möglichkeit, Ideen von außerhalb des Parlaments in ihre Logik und Arbeitsprozesse aufzunehmen und so auf die Ideen der Bürger:innen zu reagieren. Hürden wie das Sammeln von 1.000 Unterschriften können die Forderungen zusätzlich legitimieren. Diese Responsivität ist ein gutes Zeichen für diejenigen, die sich mehr Partizipation über den Wahltag hinaus wünschen - und möglicherweise ein erster Schritt hin zu einer partizipativen Stadtgestaltung.