Die Bürgerinnen und Bürger bei der Mobilitätswende mitnehmen - ein Plädoyer für echte Beteiligung
17.01.2020
An der Karl-Marx-Allee sollen ein paar wenig genutzte Parkplätze einem Grünstreifen weichen. In der Berliner Landespolitik ist die Aufregung groß, es werden viele Gründe angeführt, warum gerade dieser Parkraum besonders schützenswert sei. Parkplätze sind für einige noch immer heilige Kühe.
Ein Hauptargument: Man dürfe sich nicht gegen die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung stellen. Mit ein wenig Recherche landet man bei folgendem Satz aus dem Ergebnisprotokoll einer Bürgerbeteiligung aus dem Jahr 2016: „Die einen sprachen sich für mehr, die anderen für deutlich weniger Parkplätze aus.“ Im Fazit empfiehlt das durchführende Planungsbüro, man solle die Reduktion von Parkraum nicht als übergeordnetes Ziel verankern. Eine Begründung dafür wird nicht geliefert. Ein Teilnehmer fordert die Begrünung des Mittelstreifens anstatt der „unerträglichen Asphaltpiste“. Mehr ist im dem Protokoll zum Thema Parken nicht zu finden. Auch die erste Bürgerbeteiligung aus dem Jahr 2014 ergab kein eindeutiges Bild.
Aber wenn es um Parkplätze geht, werden viele auf einmal zu glühenden Verfechtern von Beteiligungsverfahren. Da spielt es dann keine Rolle, was dort genau entschieden wurde, und auch nicht, ob das Verfahren den Qualitätsansprüchen an eine demokratisch sinnvolle Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern genügte. Es darf nicht nur darum gehen, „die Menschen mitzunehmen“, wie das Die Linke Mitte in ihrer Pressemitteilung verlauten ließ. Es geht bei solchen Verfahren nicht um die Schaffung von Akzeptanz, sondern darum, bessere Lösungen zu erarbeiten.
Aus der Sicht der Beteiligungsforschung kann man die Güte solcher Verfahren anhand von drei Fragen analysieren: Wer wird beteiligt, woran wird beteiligt, und wie wird beteiligt.
Zunächst das Wer. Die Veranstalter eines Beteiligungsprozesses entscheiden, wer teilnehmen darf. Meistens wird offen eingeladen. Dann kommt, wer bereit ist, seine Freizeit für eine Sitzung in einem schlecht beleuchteten, stickigen Raum mit gereizter Stimmung zu opfern. Zunächst einmal gebührt diesen Menschen Anerkennung, dass sie ihre Verantwortung als Bürgerin oder Bürger so ernst nehmen. Aber: In aller Regel haben sie ein klares Motiv, oft ist es das Gefühl, etwas verlieren zu können. Oder viel zu gewinnen. Das führt zu einer Überrepräsentation von Extrempositionen und einer geringeren Bereitschaft, voneinander oder von Expert*innen zu lernen und Kompromisse einzugehen. Alle Beteiligten gehen dann normalerweise unzufrieden nach Hause, weil sich die jeweilige Extremposition nicht durchgesetzt hat. Manchmal kann man Minimalkonsense in der Gruppe ausmachen. Aber vor allem kann man am Ende sagen: Man hat die Menschen beteiligt.
Es geht aber besser. Wenn man Teilnehmer*innen zufällig auswählt, wird das Stimmungsbild sehr viel repräsentativer, so wie man es aus der Demoskopie kennt. Die Diskussionen verlaufen konstruktiver, die Verwaltung gewinnt neue Erkenntnisse und die Teilnehmer*innen beschreiben einen echten Lernprozess. Der Prozess muss so gestaltet sein, dass alle Bevölkerungsgruppen zu Wort kommen und sich dabei wohlfühlen. Eine neue Studie zeigt, dass diejenigen, die bei offenen Beteiligungsformaten zu Wort kommen, eher älter, männlicher und alteingesessener sind als der Durchschnitt.
Bei Beteiligungsverfahren zum Umbau von öffentlichem Raum stellt sich auch die Frage: Wem gehört die Straße? Die Karl-Marx-Allee ist eine der meistgenutzten Straßen Berlins. Es scheint deshalb schwer vermittelbar, dass Anwohner*innen und Gewerbetreibende alleine über deren Zukunft beraten dürfen.
Es macht also sehr viel aus, wer da ist und wer spricht. Bei der Veranstaltung zur Karl-Marx-Allee mussten Leute nach Hause geschickt werden, weil der Saal voll war.
Dann: Woran wird beteiligt? Die Politiker*innen, die Beteiligungsverfahren anstoßen, legen die Fragen fest, die erörtert werden sollen. Sie stecken den Rahmen ab und tragen die Verantwortung dafür, dass bei Bürger*innen nicht die Erwartung entsteht, dass Gesetze oder Ergebnisse anderer Beteiligungsverfahren durch ein solches Verfahren außer Kraft gesetzt werden könnten. Beteiligung ist meist beratend und eben nicht entscheidend. Wenn die Teilnehmer*innen nach Hause gehen, werden die Ergebnisse von den Moderator*innen in Verwaltungssprache übersetzt und zu einem Bericht kondensiert. Hier entstehen meist unterschiedliche Interpretationen der Stimmung im Raum und ein Kampf um die Deutungshoheit. Deshalb müssen Politiker*innen anschließend ihre Aufgabe wahrnehmen, Interessenkonflikte im Sinne des Allgemeinwohls auszugleichen. Und zu entscheiden.
Im Fall Karl-Marx-Allee heißt das: Neben ihren Programmen und neben dem lokalen Beteiligungsprozess müssen die Politiker*innen das Mobilitätsgesetz und die Klimanotlage beachten. An der Abwägung all dieser Faktoren und schließlich an einer Entscheidung in der Sache führt kein Weg vorbei. Dafür sind sie gewählt.
Zuletzt: Wie sieht ein guter Beteiligungsprozess aus? Die Fragen, die bei Beteiligungsprozessen zum Umbau öffentlicher Räume verhandelt werden, sind komplex. Es geht dabei um unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben, um Teilhabe, Gemeinschaft, Individualität, Sicherheit, um das Klima, Luft- und Lärm und vieles mehr. Außerdem müssen Laien sich erst einmal in die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Infrastrukturelemente hineindenken und eine Vorstellung davon entwickeln, wie Menschen auf diese reagieren. Und gute Diskussionen, gar Deliberationen, brauchen so oder so Zeit, selbst zu einfachen Fragen. Das heißt: Mit einem Abend ist es oft nicht getan. Die Menschen müssen bereit sein, sich auf einen aufwendigen Prozess einzulassen und die Verwaltung muss willens sein, richtig Geld auszugeben. Wenn man nicht den gesamten Haushalt für Beteiligung ausgeben und die Freizeit der Bürger*innen nicht überstrapazieren will, tut man gut daran, die Fragen gründlich auszuwählen und zu bündeln. Eine Beteiligung zu jedem einzelnen Parkplatz vor der Haustür, also der Beanspruchung von 15 m² öffentlichem Raum, oft in bester Innenstadtlage, zur Lagerung von Privatautos, gehört sicher nicht dazu. Wenn wir das Gemeinschaftsprojekt Mobilitätswende ernsthaft angehen wollen, geht das nur, wenn wir Partizipation zu den Grundsatzfragen wirklich ernst nehmen.